Die Stiefeltheorie
Auf der Scheibenwelt, einer von Sir Terry Prattchet erdachten Fantasiewelt, die eine große Scheibe ist, die auf dem Rücken von vier Elefanten liegt welche wiederum auf dem Panzer einer großen Schildkröte stehen, die durch das All schwimmt, gibt es eine Figur namens Sam Mumm, auf die die Stiefeltheorie zurück geht. Sam Mumm ist Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morporg, der größten Stadt auf der Scheibenwelt. Zu beginn seiner Karriere in der Stadtwache musste er oft streife gehen, dabei lief er oft so gedankenversunken durch die Stadt, dass er sich nur anhand der Struktur des Bodens orientieren konnte. Seine Stiefel waren die billigsten Stiefel, die es zu kaufen gab. Ihre Sohlen nutzten sich schnell ab, so das sie bald so dünn waren, das er den Boden durch die Schuhsohlen hindurch spüren konnte und da jede Straße ein anderes Pflaster hatte, wusste er so ohne die Augen öffnen zu müssen, wo er sich befand. Später, als er reich geheiratet hatte und Kommandeur geworden war, kaufte er sich auf Drängen seiner Frau teurere Stiefel, die allerdings dickere Sohlen hatten, die länger hielten und sich nicht so leicht abnutzten, weshalb er den Boden nicht mehr spüren konnte und merkte, dass er sich zunehmend verlief, wenn er gedankenversunken durch die Stadt spazierte. Also trug er heimlich (ohne das seine adelige Frau das mitbekam) weiter die alten Schuhe, an die er so gewöhnt war und erdachte dabei die Stiefeltheorie. Dieser Theorie zufolge bleiben die reichen Leute reich, weil sie weniger Geld ausgeben müssen, sobald sie es einmal haben. Die teuren Stiefel halten einige Jahre. In der Anschaffung sind sie zwar teuer als die billigen Stiefel, halten aber auch viel länger. Die billigen Stiefel sind nach einigen Monaten durchgelaufen und müssen ersetzt werden, so dass man viel häufiger neue Stiefel braucht. Über einen längeren Zeitraum hinweg gibt ein reicher Mensch, der Geld für teurere Stiefel hat, also weniger Geld für diese Stiefel aus, als der Arme Mensch, der die billigen Stiefel kaufen muss. Das Beispiel mit den Stiefeln ist etwas banal und wirkt altbacken, ist aber auch sehr anschaulich. Dieses Phänomen zieht sich durch unterschiedliche Bereiche des Lebens, sowohl auf der Scheibenwelt, als auch auf der Rundwelt (so nennen die Scheibenwelt Fans die echte Welt, in der wir uns befinden, sofern sie nicht doch eine Simulation ist und wir eigentlich alle in komischen Tanks liegen und lediglich denken wir wären in der echten Welt während wir uns in der Matrix abmühen und dystopischen Roboterwesen als Energielieferanten dienen). Ich selbst trage billige Schuhe, die normalerweise irgendwann kaputt gehen, weil die Sohlen am vorderen Fußballen so dünn werden, dass sich dort Löcher bilden. An den Schuhen die ich gerade in diesem Moment trage ist dieses Phänomen gut zu beobachten, die Sohle meines Linken Schuhs hat ein Loch, durch das ich den Finger stecken kann, und ich muss mir dringend neue Schuhe besorgen. Das mache ich so zwei oder drei Mal im Jahr. Vermutlich könnte ich langfristig eine Menge Geld sparen, wenn ich einfach mal anfangen würde mir teurere Schuhe zu kaufen, die dann auch länger halten. Aber der Gedanke mehr als 50€ für ein paar Schuhe auszugeben löst in mir ein großes Unbehagen aus. Das ist doch absurd. Es geht um Schuhe! Dafür kann ich doch nicht so viel Geld ausgeben! In anderen Bereichen habe ich dieses Paradox überwunden. Zum Beispiel bei Smartphones. In Sachen Smartphones bin ich ein Spätzünder. Lange Zeit war ich ein verstrahlter Hippie und hatte überhaupt kein Handy. Ich hielt das für nicht notwendig. Erst als schon alle meine Freude Smartphones hatten und ich einsah, dass es sehr Praktisch wäre unterwegs nach Zugverbindungen suchen zu können ohne mir jedes mal am Automaten am Bahnhof einen neue Verbindung ausdrucken zu lassen, besorgte ich mir ein Smartphone. Ein gebrauchtes Samsung Galaxy S4, das meine damalige Freundin mir für den lachhaften Preis von 70€ überließ, weil sie ein neues hatte. Das hat mich sofort überzeugt. Was mich nicht überzeugt hat, was dass das Gerät schon nach kurzer Zeit keine Softwareupdates bekam. Softwareupdates sind wichtig, weil sie Sicherheitslücken schließen, die böswillige Menschen ausnutzen können um sich Zugriff auf Geräte zu verschaffen und damit allerlei Unfug treiben. Geld stehlen, zum Beispiel. Ein Gerät, für dass es keine Sicherheitsupdates mehr gibt, lässt sich eigentlich nicht sicher betreiben. Die Lücken in der Software, die Sicherheitsforscher gefunden haben um sie zu schließen, sind meist im Internet verzeichnet, sie lassen sich recht leicht nachgucken und der Aufwand, der nötig ist um die Kontrolle über ein solches Gerät zu übernehmen ist erstaunlich gering. Nicht ganz trivial, aber eben auch deutlich weniger Aufwand, als man so annehmen würde. Das bereitete mir großes Unbehagen. Eine Weile lang kompensierte ich dieses Problem indem mich einigen Aufwand betrieb um auf meine alten Smartphones alternative Betriebssysteme zu installieren, Varianten von Android, die von ehrenamtlichen Entwicklern bereitgestellt werden und alte Geräte länger nutzbar machen, so dass sie nicht nach deprimierend kurzer Zeit zu unsicherem Elektroschrott werden. Das wurde mir aber irgendwann zu aufwändig und ich entschied mich, über meinen Schatten zu springen und die Seiten zu wechseln. Jetzt habe ich ein Iphone. Ein gebrauchtes zwar, denn ganz so absurd viel Geld bin ich auch nicht bereit auszugeben, aber eines, von dem ich sicher bin, dass es einige Jahre lang Sicherheitsupdates bekommen wird, so dass ich es nicht aufgeben muss obwohl das Gerät eigentlich noch gut ist. In meiner Schreibtischschublade liegen etwa ein halbes Dutzend alte Android Geräte, die ich einfach nicht mehr guten Gewissens benutzen kann. Das macht mir ein schlechtes Gewissen, weil es nun mal nur einen bewohnbaren Planeten in erreichbarer nähe meiner Wohnung gibt, auf dem es nur eine begrenzte Menge der Ressourcen gibt, die notwendig sind um ein Smartphone herzustellen. Und ich mag Smartphones. Es wäre sehr in meinem Interesse, wenn es die auch die nächsten Jahrzehnte über noch gäbe und am besten auch zu einem Preis, den ich mir leisten kann. So ein gebrauchtes Iphone ist etwa zwei bis drei Mal so teuer wie ein Android Gerät mit vergleichbaren Spezifikationen. Aber es hält auch deutlich länger. Was bedeutet, dass ich auf lange Sicht weniger Geld für mein Smartphone ausgeben muss, wenn ich bereit bin ein mal mehr Geld dafür auszugeben und mir das auch leisten kann. Gerade kann ich das glücklicherweise. Aber das Mindset, das hinter der Stiefeltheorie steckt, habe ich noch nicht gänzlich abgeschüttelt. Bei vielen anderen Dingen, die teuer sind aber sich eigentlich langfristig lohnen, fällt es mir schwer mein inneres Unbehagen dazu zu überwinden. Die Tatsache, dass in Deutschland Iphones einen Auffällig geringen Marktanteil haben – zumindest im Vergleich zu anderen Ländern mit ähnlichen Wirtschaftlichen Dimensionen – halte ich für einen interessanten Marker, der etwas über die Mentalität der Deutschen Bevölkerung verrät, dass nicht ganz offensichtlich ist, wenn man nicht darüber nachdenken will. Das polemisieren über Eigenschaften, die man Leuten einer bestimmten Nationalität zuschreibt, lässt mich selbst aufstoßen und erzeugt Ekel vor meinen eigenen Worten. Normalerweise identifiziere ich mich nicht besonders mit meiner Staatsangehörigkeit und versuche mich auch von Menschen fern zu halten, die gesteigerten Wert darauf legen, wo jemand her kommt. Aber in diesem einen Punkt glaube ich etwas beobachtet zu haben, das eine genauere Betrachtung erfordert die es Wert ist mich in das Feld des Nationalismus alter weißer Männer zu begeben. Ich gehe auch hinterher duschen, versprochen. Für mich ist die Frage mit den Sicherheitsupdates der entscheidende Knackpunkt beim Kauf eines Smartphones, aber ich bin auch ein Paranoider kleinkrimineller, der alles verschlüsselt was ihm in die Finger kommt. Für die meisten Menschen spielen andere Dinge ein viel Größere Rolle. Die mit dem Besitz eines Objektes verbundene Symbolik, vor allem. Der gesellschaftliche Status, den sie damit signalisieren. Ein Iphone ist einerseits ein Smartphone, aber eben auch ein Statussymbol, und wir deutschen haben ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Statussymbolen. Wir benutzen sie, geben das aber nicht gerne zu. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist in Deutschland nicht auffällig gering, im Vergleich zu anderen Westeuropäischen Ländern sogar auffällig groß, aber das ist etwas, was wir nicht gerne hören wollen. Über Geld spricht man nicht. Und das hat Gründe. Wenn wir über Geld sprechen würden, dann müssten wir und Dinge eingestehen, die wir möglicherweise nicht wissen wollen, weil sie das Ideal der eigenen Tugendhaftigkeit in Frage stellen würden. Wir mögen es so zu tun als sei der Reichtum dieses Landes einzig und allein darauf zurückzuführen, dass die Deutschen fleißige Arbeiter sind, die immer Pünktlich erscheinen und ihre Arbeit ernst nehmen. Als wäre das etwas rein Kulturelles, das jedes andere Land auch schaffen könnte, wenn die Leute dort sich nur etwas mehr anstrengen würden statt den ganzen Tag auf der faulen Haut in der Sonne zu liegen und dann mit ihren Schlauchboten hier her zu schippern um von unserem hart erarbeiteten Reichtum zu profitieren. Das ist ein sehr bequemer Gedanke, so müssen wir uns nicht eingestehen, dass auch Deutschland jede Menge Kolonien hatte und der Vorsprung den wir in Ökonomischer Hinsicht ärmeren Ländern gegenüber haben nicht erst mit der Arbeitermentalität der Nachkriegszeit aufkam, sondern schon einige Zeit vorher und eben auf der systematischen Ausbeutung der Rohstoffe und Menschen von Ländern, die unsere Vorfahren mit Gewalt unterworfen, geradezu ausgeraubt, haben. Und natürlich den einen oder anderen Völkermord, an den wir uns nicht nur nicht gerne erinnern, sondern von denen wir oft auch fast nichts wissen, weil im Geschichtsunterricht bedauerlicherweise dieser eine, größte Völkermord in der Menschheitsgeschichte, über den wir auch schon nicht so gerne reden wollen – immerhin ist das ja jetzt auch schon so lange her, was können wir noch dafür? – alle anderen Gräueltaten, die unser Leben hier deutlich komfortabler gemacht haben, überschattet. Wir neigen dazu die Existenz von Klassen oder Schichten (wie auch immer man das bezeichnen Mag hängt vielleicht von der Politischen Perspektive ab, mit der man auf die Welt guckt) zu übersehen, weil wir sie nicht sehen wollen. Weil es unangenehm ist. Und nicht nur das – wir können auch nichts dagegen tun, selbst wenn wir es uns eingestehen. Wozu also überhaupt darüber nachdenken?