LindKernig

Ich bin nicht der "Doctor"

Ich bin unentschlossen, ob ich die Erzählung dieser Geschichte mit meiner Geburt beginnen soll oder mit meinem Tod. Beide Ereignisse meines kurzen Lebens weisen frappierende Ähnlichkeiten auf. Schmerz, Zuckungen, Kälte, Wellen, Wehen, Angst, Kommen und Gehen. Sowohl mein Tod, als auch die Geburt waren die Phasen intensivsten Gefühls, die ich je erlebte. Alles was dazwischen lag, der Lebensweg, wie man es nennt, erreichte nie die Höhen und Tiefen, die sich in den ersten Minuten des Auftauchens auf dieser Welt und in den kurzen Minuten des Verschwindens ereigneten. Vielleicht sollte ich eine Münze werfen. Den alten velozipeden Silberdrachen, den meine Großmutter mir vererbt hatte und den sie als einen der wenigen Gegenstände von der Erde mitnehmen konnte? Meine Großmutter war eine gütige und besonnene Frau. Man könnte meinen, dass sie eine Kostbarkeit wie den Silberdrachen ganz besonders hüten würde und die Münze nie und nimmer aus den Händen geben würde. Insbesondere nicht solch umhertollenden Wesen wie uns Kindern, die damit achtlos spielen und den Wert des Gegenstands nicht einschätzen können. Mit dem Wurf des Silberdrachens pflegte meine Großmutter Entscheidungen zu treffen. Jene Art von Entscheidungen, bei denen es keine vernünftige Lösung gab und bei denen es somit egal war, ob die Entscheidung so oder so ausfiel. Entscheidungen, bei denen es nur wichtig ist, dass sie fallen. Der Umriss eines irdischen Landes namens China war auf der einen Seite der Münze abgebildet und innerhalb des Umrisses befand sich ein zweiter Umriss, der dem ersten Umriss ähnelte, ihn an manchen Stellem schnitt und über ihn hinaus ragte. Innerhalb der beiden Linien war das Gesicht eines Menschen abgebildet. Eine junge Frau im Halbprofil. Die andere Seite zeigte einen Drachen und ein mechanisches Gerät, das auf der Erde vor einigen Jahrhunderten als Fortbewegungsmittel diente. Ein Veloziped, oder auch Fahrrad genannt. Das Veloziped hatte zwei Räder und einen Mechanismus, mit dem man es antreiben konnte, sowie einen weiteren Mechanismus, mit dem man es lenken konnte. Der Drache schien das Veloziped verschlingen zu wollen. Ich hatte Angst vor dieser Seite der Münze. Trotzdem wählte ich für alle meine Entscheidungen zweiter Ordnung stets das Veloziped mit Drachen. Entscheidungen erster Ordnung traf man natürlich grundsätzlich selbst und nach den zu Grunde liegenden Fakten. Die Münze oder andere Zufallsinstrumente kamen nur dann zum Einsatz, wenn keine Entscheidung auf Basis von Fakten möglich war. Wenn also die Möglichkeiten gleichwertig nebeneinander standen und es mit Vernunft nicht mehr weiter ging. Dann, nur dann, durfte, nein, musste der Zufall entscheiden. Das erste Mal, dass ich die Münze werfen durfte waren wir noch auf der Erde. Ein unheimlich heißes Jahr, in dem die Vögel tot vom Himmel fielen, weil sie in der Luft bei lebendigem Leib gekocht wurden. Ich erinnere mich nicht mehr, was entschieden werden musste. Entscheidungen zweiter Ordnung haben es so an sich, dass ihnen zu Grunde meist nur Banalitäten liegen. Trotzdem müssen sie fallen. Wenn Entscheidungen nicht fallen, herrscht Stillstand. Zähes Nichts. Es tut niemandem gut, wenn zähes Nichts herrscht, pflegte Großmutter zu sagen. Im zähen Nichts hätte wohl niemand von unserer Familie überlebt uund ich wäre nicht hier. Wie der velozipede Drache in der heißen Luft flimmerte und sich drehte, daran erinnere ich mich und an das harte Geräusch, als er mit einer Beschleunigung von fast zehn Metern pro Quadratsekunde auf den Boden fiel. Metall auf Stein in komprimierter, den Laut gut leitender Atmosphäre. Ich vermisse die Erde. Sie ist, obwohl ich nur meine ersten Lebensjahre dort verbracht habe, nun mal meine Heimat. Man sagt, dass der Ort, an dem man aufwächst als Mensch, der Ort, an dem man seine ersten Lebensjahre verbringt, laufen, sehen und fühlen lernt, einen für immer prägt und dass er einen überall hin begleitet, selbst an die entferntesten Orte des Universums. Sogar über den Tod hinaus. Stimmt! Nachdem wir die Erde verlassen mussten warfen wir den velozipeden Drachen nur noch selten. Die Entscheidungen, die getroffen werden mussten, waren nicht mehr so spielerisch, sondern vielmehr stets von existenzieller Bedeutung und die zu Grunde liegenden Parameter meist so klar, dass sie immer eindeutig auf Basis der Vernunft gefällt werden konnten, gefällt werden mussten. Zumal die Münze wegen der geänderten Schwerkraftverhältnisse nie wieder so fallen würde, wie einst auf der Erde. Geburt oder Tod? Anfang oder Ende, velozipeder Drache oder Umrisslinie mit Dame? Ha! Als ob es bei Entscheidungen immer nur zwei Möglichkeiten gibt. Ja oder nein, eins oder null, Transistor geschaltet oder nicht. Man sollte die Rechnung nie ohne die Wolke des Ungewussten machen. The Cloud of Unknowing. Einer Theorie zu Folge, das las ich einmal, stehen hinter jeder Eindeutigkeit weitere Entscheidungen, die sich in Uneindeutigkeiten gliedern, aus denen widerum Eindeutigkeiten hervor gehen, die sich zergliedern lassen. Somit wird aus einem eindeutigen Ja recht schnell ein spaltbares Produkt, das sich in ein Ja und ein Nein aufschließen lässt und so weiter und so fort. Bis in alle Ewigkeit. Meine Freundin Karla meint, genau darin liege das Geheimnis des Lebens. In den immer unklaren Aussagen und Entscheidungen, die wir tätigen, die wir treffen. Wir befeuern damit unser eigenes Dasein und uns wird, falsch, uns wurde nur deshalb nie langweilig, weil es in jedem nur ach so vermeintlichen Ende weitere Verästelungen gibt, die sich wie eine selbsttätige Gebärmaschine wieder und wieder aufspleisen. Nie hat ein Mensch das Ende aller Entscheidungen getroffen. Und dass wir, Karla und ich und all die anderen noch immer existieren und uns äußern können, obwohl wir doch im eigentlichen Sinn des Lebens gar nicht mehr leben, das verdanken wir der Tatsache, dass aus einer Entscheidung zwischen Ja und Nein eben nicht nur Ja und Nein hervor gehen, sondern dass es noch mindestens eine weitere, eine okkulte Möglichkeit gibt, die wir nur nicht wahrnehmen. Der velozipede Drache hat auch einen Rand, auf den er fallen könnte. Das ist zwar an Unmöglichkeit grenzend unwahrscheinlich, so zumindest lehrte man es auf der Erde: Eine Münze fällt immer auf die eine oder andere Seite, egal wie sehr man sich anstrengt. Das ist uraltes irdisches Wissen. Man hatte diesbezüglich einst sogar höchst seriöse Versuche angestellt. Münzwurfmaschinen, die über mehrere Jahre einen Münzwurf am anderen ausführten und nie, nie, nie bei aber Millionen Würfen blieb auch nur eine der Münzen auf dem Rand stehen. Dass eine Münze trotzdem auf dem Rand landen kann und dass nicht immer und überall irdische Bedingungen herrschen, musste ich kurz nach meiner Einschulung erfahren. Jedoch fiel diese Münze nicht auf der Erde. Hals über Kopf musste unsere Familie den Planeten verlassen. Nur wenigen tausend Bewohnern des Planeten gelang die Flucht. Und nein, nicht der velozipede Drache entschied, ob und wie wir fliehen, es waren Privilegien, Glück, günstige Umstände. Mit ein paar Hand voll Menschen waren wir die letzten, die im Moonelevator lebend bis zum Spacelink gelangten und von dort zur Mondbasis evakuiert wurden. Ich lenke ab. Ob ich mit meiner Geburt oder mit meinem Tod beginne, diese Geschichte zu erzählen, fragte ich mich zu Beginn. Nun, mit einigem Humor muss ich gestehen, weder noch. Der velozipede Drache ist wohl diese Mal auf dem Rand gelandet. Und um ehrlich zu sein, es wäre mir ohnehin nicht möglich gewesen, den Drachen zu werfen. Ich habe keinen Körper, keine Hände, kein Münzwurf, keine Entscheidung zweiter Ordnung.

Das Kleingedruckte Autor und Rechte Jürgen Rinck Ich werde etwa ein Jahr an diesem und weiteren Schreibprojekten arbeiten. In wöchentlichen Abständen schreibe ich in diesem Blog den “Zukunftsroman der Feinen Künste”. Wenn Du mich unterstützen möchtest, folge dem Link zu meinem PaypalMe Account

Kein Körper, Geburt und Tod absolviert, kein Zeitempfinden, was nicht stimmt, was aber dennoch stimmt, keine Vergangenheit, aber die Erinnerung an Vergangenes, keine Zukunft, aber die Hoffnung darauf. Und auf Körper und echte, empfindbare Zeit. Es gibt nur noch ewige, dröge Gegenwart und einen impertinenten Mangel an Geschichten, jene Art Mangel, die einem frech wie ein böser Clown ins Gesicht grinst. Ich jammere. Es gibt nicht viel zu tun, wenn du einmal in die Existenz integriert bist. Keine Wege, die es zu gehen gäbe, nichts Unbekanntes, das es zu expeditieren gäbe. Wir drehen uns auf Ewigkeit im Kreis. Unser Leben, entschuldigung, wir sind ja Tote, unsere Existenz besteht aus Wiederholung einer begrenzten Vielzahl ein und des Selben. Wieder und immer wieder. Wieder ein Spaziergang am Meer. Wieder eine Fahrradreise rund um eines der Länder der einstigen Erde. Wenn es endet, kann es nur von Neuem ablaufen. Aber verändern wird sich nichts. Das ist keine Zukunft. Nein, das stimmt nicht, sagt Karla, es gibt eine Zukunft, sagt sie zuversichtlich, es kann sich nicht für immer alles im Kreis drehen und wiederholen. Ich widerspreche ihr dann und sage, sieh doch hin, wir drehen und drehen und drehen, wie sollen wir denn irgend etwas verändern. Dazu bräuchte man Arme, Beine, die Werkzeuge bedienen können, die laufen können, wir jedoch drehen nur noch wie in einem kollektiven Riesenhirn, wir sind nur noch die Erinnerung an unsere Selbsts, die wir einmal waren. Ich weiß nicht, wann es begonnen hatte zu kippen, wann die ersten Stimmen in der Kolonie laut wurden, dass wir uns transformieren müssen. Sicher war zu einem guten Teil die traumatische Erinnerung, wie es mit der Erde zu Ende gegangen war, schuld. Und die Mahnung, dass sich das auf dem Mond nicht wiederholen darf. Weshalb Körper und alles Physische aus dem Dasein verbannt wurden. Per grunddemokratischer Entscheidung. Ich und Karla waren einige der wenigen, die dagegen waren, alle Körper aus der Kolonie zu entfernen, alles was nur irgend etwas Echtes, etwas Physisches und etwas Haptisches hätte bewegen können und Zerstörung leisten können, zu eliminieren. Wir wurden überstimmt und mussten uns in dieses Schicksal fügen, denn so funktioniert nun einmal dieses uralte Modell menschlichen Zusammenlebens, das man Demokratie nannte. Schon mit Körpern und noch am Leben war das Existieren auf dem Mond nicht einfach. Wir Ikositetrials, die 24. Jahrhundert-Generation, die wir noch auf der Erde geboren waren und denen die Flucht gelang, hatten gegenüber denjenigen, die schon einige zig Jahre auf dem Mond lebten, die die geringe Schwerkraft quasi mit der Muttermilch aufgesogen hatten, schon immer Schwierigkeiten. Wir fremden Dinosaurier, wir. Auch mit den äußeren gegebenheiten, der Enge, der Strahlung und insbesondere mit der Schwerkraft war es nicht leicht. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob man seine Körpermasse mit vierfachem Druck auf der Erde bewegt oder mit dem normalen Druck auf dem Mond, der nur etwa ein Viertel des Gewichts auf der Erde spürbar macht. Ich kam mit achtzig irdischen Kilogramm mit der allerletzten Fahrt von der Intersektion zum Mond, nachdem ich dort einige Wochen in Quarantäne, meist in Schwerelosigkeit verbracht hatte. Also mit Ich meine ich meinen einstigen Körper. Nun wiege ich ja nicht mehr. Ohne Körper kein Gewicht, pflegt Karla immer zu frotzeln. Dann schiebt sie sich einen virtuellen Himbeerkuchen rein und noch einen und noch einen kostet ja nichts, bzw. es ist ja immer der selbe oder es ist egal oder es ist nur die Illusion von Himbeerkuchen und sie denkt nur sie isst und sie wird fett, aber man kann es nicht messen, und schmecken kann man es nur als Erinnerung, wenn man denn das Glück hatte, dass man im körperlichen Leben einmal ein Stück Himbeerkuchen essen durfte. Vielleicht auch stelle ich mir nur vor, Karla esse den Himbeerkuchen wieder und wieder und eigentlich gibt es gar keinen Himbeerkuchen? Manchmal ist es zum Verrückt werden in der Existenz, wenn es nicht gelingt sein eigenes Ich, der Schatten, der einem geblieben ist, von den anderen ichs abzugrenzen. Karla und ich sind Freunde, Vertraute, kein Liebespaar. Wir lernten uns auf dem Sterbebett kennen und ich mutmaße, ich wäre längst verrückt geworden, wenn wir uns nicht kennen gelernt hätten, wenn wir uns nicht hätten. Ohne Körper kein Gewicht, pflegt Karla stets zu sagen, wenn sie Himbeerkuchen ist. Sie nennt es 'Legnern' (Link), in Anspielung auf ein Meme aus der digitalen Frühzeit, das neben einigen wenigen anderen Informationen in die Monddatenbank gerettet werden konnte. Unser Dilemma ist, dass dieses 'Legnern' so wenig ist, sagt Karla. Wir hätten eigentlich viel mehr Information gebraucht. Das frühe digitale Netz war unheimlich reich und frei, wenn wir alles von damals abgespeichert hätten, könnten wir hunderte, tausende Jahre in der Existenz verbringen, ohne dass sich auch nur irgendetwas wiederholt. Dabei 'legnert' sie genüsslich ihr Stück Kuchen. Konnte ja niemand ahnen, dass es so extrem langweilig wird, wenn niemand mehr neue Geschichten, Memes, Informationen jedweder Art beisteuert zur Existenz. Konnte ja niemand ahnen, das wir etwa zehntausend Wesen, die sich erfolgreich in die Datenbank retten konnten, mit dem kleinen Datenbestand verschmelzen, miteinander verschmelzen, uns gleichzeitig aber auch abgrenzen müssen, um nicht durchzudrehen. 'Erfolgreich transformiert' ist ja auch so ein Unding aus den Werbeprospekten der Dekorporationsfanatiks. Bei vielen ging die Dekorporation mächtig schief. Ganz arme Teufel, die ein völlig orientierungsloses Dasein fristen, digitale Zombies, seelenlos wandelnde Etwase zwischen den Tabellen. ID-Loser. Wohl dem, der ihnen nicht begegnet, denn das kann recht schnell in einer argen Endlosschleife, einem nimmer endenden Horrortrip enden und man weiß ja wie sich das anfühlt, wenn sich alles immer wiederholt. Dann schon lieber 'legnern' auf Teufel komm raus. Kann einem nichts schaden. Karla und ich hatten jedenfalls die Dekorporation in die Existenz schadlos überstanden. Ich sehe uns noch Hand in Hand vorm Krematorium stehen, wie wir unseren Körpern adieu sagten, die mit den letzten Sauer- und Wasserstoffvorräten der Station in Asche verwandelt wurden. Es gibt nichts mechanisches mehr auf dem Mond. Es gibt auch keine Elemente mehr, die für so etwas wie Stoffwechsel nötig wären. Dafür hatte der Rat gesorgt. Kein Sauerstoff, kein Körper, keine Roboter, nichts, mit dem es einem gewillten Funken, der die Existenz wieder verlassen möchte, auch nur annähernd möglich wäre einen sprichwörtlichen Hebel in Bewegung zu setzen, einen Knopf zu drücken, einen Sensor auszulösen und so driften wir durch unsere Existenz auf alle Zeit, die nun keine mehr ist, die nie eine war. Hey, bis zu einem gewissen Grad, stellte einem sich diese Art zu sein vor vierhundert Jahren noch als ewiges Leben dar, das Leben im Moment, auch pure Gegenwart genannt. Wie naiv die Menschen in der frühdigitalen Zeit doch waren, wenn sie nur wüssten, wie es sich anfühlt, diese ewige Gegenwart, sie würden einen großen Bogen machen, um den Versuch, sie zu erlangen. Die Goldenen 10100er Jahre des dritten Jahrtausends. Ha! Natürlich haben wir noch Erinnerungen. Natürlich können wir noch Dinge erleben. Natürlich gibt es Freude und auch Leid gibt es, aber keine Ungerechtigkeit, kein Unglück, keine Tragödien. Es gibt aber nichts, was nicht berechnet werden könnte. Wir sind nur noch die Spitze des Eisbergs alles Fühlbaren. Manchmal versuche ich, einen Gegenpol zu erzeugen, indem ich Karla widerspreche und wir geraten dann recht flott in eine Widerspruchsschleife, die sich wie ein Möbiusband ineinander windet, kein Entrinnen. Was erhoffe ich mir davon, wenn Karla sagt, es wird eine Zukunft geben, und ich gegenhalte, es gibt keine Zukunft. Vielleicht dass die Macht des Algorithmus gebrochen wird? Dass es ein Entrinnen gibt? Dass sie recht hat? Dass von irgendwo sich ein Körper auftut, in den wir schlüpfen können und neues Erleben. Ha! Gaube ich nicht doch insgeheim daran, dass es weiter gehen wird, statt sich ewig zu wiederholen. Also doch eine Zukunft? Und wenn du, wer immer du bist, dies liest, ich weiß nicht, in welcher Zeit du es lesen wirst, ob du verstehst, wovon ich rede. Sei gewarnt, es ist ein individuelles Bild eines Rests Verstand, der sich in einer mikroskopisch winzigen Datenbank auf einer Art programmiertem Sandkorn befindet, zehntausend Seelen sind wir und ein paar zig Terrabyte Information aus einem für uns längst vergangenen Jahrhundert, sowie dem Wenigen, was die zehntausend Seelen (außer den digitalen Zombies (und selbst die tragen in ihrem Wahn sicher auch Informationen mit sich, wir können sie nur nicht verstehen) mitgebracht, miterlebt haben). Ich darf hier nicht nörgeln. Es geht mir doch gut. Es könnte schlimmer sein. Ich könnte gar nicht mehr existieren, so wie wir es in der Schule einst lernen: Nach dem Tod kommt nichts mehr. Nur noch Dunkelheit, kein Gefühl, kein Gedanke, kein Körper. Und nun ist es doch so gekommen, dass es wenigstens noch Erinnerungen an uns selbst gibt, keine echten Gefühle, aber Erinnerungen daran. Gefühle der zweiten Ebene sozusagen. Die paar zig Terrabyte aus dem einst irdischen Museum für digitale Frühgeschichte sind unere einziger Trost. Ablenkung, Unterhaltung, die sich aber abnutzt im Laufe der Zeit. Karla und ich hatten versucht, den Rat zu überzeugen, dass wir versuchen, das alte Archiv auf der Erde anzuzapfen und uns den Rest der Erde in die Existenz zu kopieren. Das würde uns, wenn wir es in Zeit messen, etliche Jahrtausende Freude bringen. Es wäre eine unglaublich reiche Datenbank, die wir als Beute ins Körperlose mitnehmen könnten und in der wir unsere Expeditionen nach Herzenslust gestalten könnten. Der Rat machte unmissverständlich klar, dass das nicht geht, denn dazu müsste man physisch tätig werden, bräuchte zumindest einen Roboter, der sich zur Intersektion durchschlägt und die Verbindung repariert. Und letztlich bestünde ein viel zu großes Risiko, die Existenz zu verunreinigen. Selbst zu echten Lebzeiten war es vielen klugen Leuten nicht gelungen, das Archiv aus dem Museum für digitale Frühgeschichte in die Dependance auf dem Mond zu übertragen. Obschon meine Großmutter mit ihrem kleinen Team es fast geschafft hätte. So bleibt uns das Wenige, was vor dem Zusammenbruch noch kopiert werden konnte. Eine Handvoll privater Blogs der 10100er Jahre und viel Gezwitscher und Getröte einer ganz und gar durchschnittlichen Schar von Menschen, die damals aktiv im Internet unterwegs waren. Sowie ein ganz besonderer Schatz ...

Last Exit: Leben im Lied

... nämlich Musik. In der Datenbank findet sich ein repräsentativer Mitschnitt der Musik jener Zeit, die wir die digitale Frühzeit nennen. Das ist pure Magie. Ich kann Tage, Wochen, Monate verbringen – ich sage das jetzt einmal so, ich empfinde ja keine Zeit mehr), Zeit ist nur eine grobe Einschätzung dessen, was sie einmal war – Tage, Wochen und Monate kann ich in einem Lied leben, das mir gefällt. Das nunja, ich wiederhole mich, ich fühle es zwar nicht, aber es kommt der Sache des Fühlens doch recht nahe, es fühlt sich also gut an. Manchmal stelle ich mir vor, es landen Außermondische in der Kolonie und sie finden die Existenz und sie starren durch ein Mikroskop auf dieses winzige Stück Information. Aber wahrscheinlich würde sie uns nicht bemerken. Vielleicht würden sie uns einatmen oder verdauen, vielleicht aber auch, tja, wenn sie uns erkennen könnten, vielleicht könnten sie uns befreien. Wenigstens Karla und mich ...

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Das Leben im Lied macht mich faul. Es lähmt mich (ha, lähmen, da sagt aber einer was). Ich weiß nicht, ob man sich das als normales Lebewesen, gesegnet mit einem Körper, vorstellen kann: ein Leben in einem Lied. Es ist eine Art imaginäre Dauerbeschallung ohne Beschallung. Und ohne Dauer. Es handelt sich im Grunde um erinnerte Takte, Rhythmen und Melodien, die den Datenspeicher belegen. Da ist nichts Taktiles. Nichts, was man spüren könnte und dennoch spürt man etwas, wenn man sich in ein Lied oder die Erinnerung an ein Lied begibt. Ich habe mich der Musik des frühen digitalen Zeitalters verschrieben, eine Ära von etwa hundert Jahren, in der sich die Musik dramatisch entwickelte. Von rein akustischen Instrumenten und Gesang über elektronische Instrumente bis hin zu digitalen Tonerzeugungstechniken. Ein Kapitel meiner Doktorarbeit, die ich über das frühe digitale Zeitalter schrieb, beschäftigt sich mit der Musik dieser Zeit und mit den Tonerzeugungstechniken im Wandel der Jahrzehnte. Mag sein, dass dieses mein Steckenpferd, das ich sowohl zum Forschungsprojekt, als auch zum Beruf gemacht hatte, mir das Leben in der Existenz versüßt. Es ist bei weitem nicht jedem gegeben, sich in Liedern zu verkriechen. Insbesondere die Urbevölkerung der Mondstation, die, die hier geboren wurden, hatten mit Musik nie etwas zu tun. Wer sich nie mit etwas beschäftigt hatte, hat auch keine Erinnerung, die in Tabellen der Existenz gespeichert werden konnten. Meine Erinnerungen an die Musik und das Leben auf der Erde, sind mir ein rares, sehr kostbares Gut. Ich kann mich stundenlang in einem einzigen Lied verkriechen. Endlosschleife nannten das die Musikbegeisterten der frühen digitalen Zeit. Etwas verrücktes, nerdiges, zweifellos. Fast ist es wie eine Droge zu sich zu nehmen. Einmal hatte ich, umgerechnet in Zeiteinheiten, viereinhalb Erdentage in “The Brain That wouldn't Dye” verbracht. Es konnte nie geklärt werden, ob das Lied der Soundtrack zu einem gleichnamigen Horrorfilm aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert ist, oder ob es eine Hommage an diesen Film ist, oder ob es sich um ein zufälliges Stand Alone Werk handelt, das in einer Art Morphschen Feld um die Erde ging und hie und da in den verschiedensten Körpern und Geistern und in den verschiedensten Genres, Film, Musik und Kunst auftauchte. Ich vermute, es handelt sich um ein Meme. Memes sind meist lustige Wandler in den Strukturen des frühen digitalen Informationsnetzes. Gemeinsames Gedankengut, durch die Jahrhunderte wabernd. Im Film, der ebenso wie das gleichnamige Lied der Kapelle Tall Dwarfs in der Monddatenbank gespeichert ist, fehlt der originale Ton. Man sieht nur Bilder. Die Geschichte handelt von der sterbenden Gattin eines Wissenschaftler. Ein besessener Kerl, der ihr den Kopf abschneidet und ihn in einer primitiven Nährlösung am Leben erhält. Er versucht, einen passenden Körper zu finden, um die Gattin wieder voll funktionsfähig zu machen. Wohl faszinieren Karla und ich uns deshalb so sehr für diesen vierhundert Jahre alten Schinken, weil er auf infantile Weise zeigt, was uns selbst möglich wäre, wenn es uns nur irgendwie gelänge an einen Körper heranzukommen. Wir sind die Gehirne die nicht sterben können der Moderne. Was uns fehlt: Körper oder wenigstens Genmaterial und irgend etwas, mit dem man Hebel bewegen könnte auf der Mondstation. Karla hatte schon einige Versuche unternommen, auch nur irgendeines Gegenstands habhaft zu werden, mit dem man sich verbinden könnte und somit in Echt auf der Mondstation umher zu wandeln, sozusagen als Architekt eines neuen Selbsts in eigener Sache unterwegs. Ein Roboter wäre ideal. Der Jackpot wäre, einen echten Körper zu finden, meinetwegen der eines Tiers, am besten der eines Tiers mit Daumen und Fingern, damit man ordentlich zupacken kann. Die Wuffzies im Museum für Spielzeuge, hier auf dem Mond sind die einzigen Gegenstände, die man gebrauchen könnte. Mit viel Glück. Das stellten Karla und ich fest, als wir kürzlich auf einem Ausflug ins Museum vor den drolligen hundeähnlichen Androiden standen. Ahahaha, verzeihen Sie das Lachen, ich rede von vor irgendetwas “stehen” oder von “Lähmung”, dabei ist das doch nur Simulation in unseren Köpfen. Wenn wir sagen, wir gehen morgen ins Kino und schauen uns einen Film an, dann bedeutet das nichts anderes als: Wir stellen uns vor, ins Kino zu gehen und wir erinnern uns an einen Film, den wir schon einmal geschaut haben. Wir erinnern uns daran, an der Kasse vorm Kino schlange gestanden zu haben, mit anderen, schlange Stehenden geplaudert zu haben, die Tickets bezahlt zu haben und unsere Plätze im Halbdunkel das Kinosaals gesucht zu haben. Es gibt ein Retrokino auf dem Mond, in dem man mit “echtem” Geld bezahlen konnte und “echte” Tickets erhielt. Es gibt auch Museen auf dem Mond. Kunst, Technik, sogar ein Spielzeugmuseum. Im Spielzeugmuseum stehen Wuffzies, behauptete Karla. Ich weiß das. Ich erinnere mich daran, dass sie vergesssen wurden. Man hat sie nicht vernichtet. Wir könnten sie beseelen, lachte sie verschmitzt und drückte meine Hand. Immerhin gelingt es uns, körperliche Nähe zu erfahren, indem wir beide uns an körperliche Nähe erinnern. Mir bedeutet das sehr viel. Ich weiß nicht, was Karla empfindet, wenn wir unsere Hände halten. Das Problem mit den Wuffzies ist, dass es sich um die simpelsten Spielzeugandroiden handelt, die man sich nur vorstellen kann. Vierbeinige Wesen, die drei feststehende Beine haben und eines, um es zu heben. Die Dinger können also rein mechanisch nur Pissen. Ahahaha. Was gäben wir darum, wenn wir pissen könnten oder auf drei Beinen stehen oder erstarren. Selbst vor Angst gelähmt sein wäre meinetwegen ein Fortschritt. Als ob man als eine Ansammlung miteinander verknüpfter Datenbanktabellen von Lähmung sprechen könnte. Unser Land ist begrenzt auf alles, was sich an Vergangenem in Einsen und Nullen übersetzen ließ und übersetzt wurde. Es ist in einer komplexen Verknüpfung gefangen, aus der es, der Körperlosigkeit sei Dank, kein Entrinnen mehr gibt. Wir sind isoliert. Es wird nichts Neues, kein “Frischfleisch” hinzukommen. Für alle Ewigkeit bleiben die paar zigtausend Seelen, die gegen Ende der Zeit auf der Mondbasis lebten unter sich alleine. Nie wieder Abwechslung. Nie wieder Innovation. Nie wieder eine, wenn auch noch so kleine, bedeutungslose neue Geschichte. Wer lange genug in der Existenz lebt, wird sich letztlich zu Tode langweilen müssen. Doch der Tod bleibt aus, weil wir ja schon tot sind und nur das Wissen um uns selbst als eine Art diamantenes Monument von unbestimmter Größe geblieben ist. Selbst diese existenzgeborene Geschichte, die ich gerade schreibe, die Sie gerade lesen, ist nichts Neues. Jeder könnte sie aufschreiben, selbst in den letzten Winkeln und den hintersten Datenbanktabellen finden sich Spuren dieser Geschichte. Warum ich es trotzdem tue? Es macht mich ruhig, gibt mir das Gefühl, etwas zu tun. Aber tun sie einmal etwas für immer auf alle Zeit und ohne jegliche Aussicht auf ein Ende.

Die Menschen des frühen digitalen Zeitalters hatten das was ich tue, indem ich diese Geschichte aufschreibe, mit einer einfachen Phrase erklärt, “Der Weg ist das Ziel”. Unterwegs sein für immer, nichts forcieren, nichts erzwingen, sondern den Moment erleben und nicht an vergangenes Leid denken und an fernes Glück. So war die damalige Stoßrichtung offenbar diese, dass man aus dem Leid kommt und ins Glück geht, wenn man eine positive Lebenseinstellung hat, wenn die Lebenseinstellung negativ ist, śind die Pole umgekehrt. Glück ist Leid und Leid ist Glück und dazwischen liegt der Weg und Werte wie Bestreben, nach was auch immer. Bestrebungen bestimmen das Vorankommen. Der Weg als Ziel galt wohl als Heilmittel. Das wusste man schon vor vierhundert Jahren. Im Grunde sind Glück und Leid nur zwei Seiten einer Münze. Mein velozipeder Drache kommt mir in den Sinn, jene uralte Münze, die ich zu Beginn dieser Geschichte werfen wollte, um zu entscheiden, ob ich Ihnen zuerst von meinem Tod oder von meiner Geburt berichte (ha, weder das Eine, noch das Andere tat ich). Ursprünglich hatte ich die Idee, in dieser Geschichte chonologisch vorwärts oder rückwärts vorzugehen, wollte alle Elemente der Geschichte in einer Tabelle arrangieren, IDs verknüpfen, Rückkopplungen und Schleifen schaffen et voilà, fertig die gute alte Story im klassischen frühdigtalen Stil. Sie hätte alles gehabt, was gutes Erzählen damals ausmachte. Einen Teaser, einen Hauptteil, eine Konklusion und ein Ende.

Krchtzzz. Dass Geschichte umgeschrieben werden kann, dass Geschichte umgeschrieben wird, dass Geschichte umgeschrieben wurde, dass Geschichte, noch während wir sie in der Schule “lernten” schon längst umgeschrieben war, dass das Finden von Wahrheit ein solch abscheulich schmutziger Gang durch etwas eigentlich ganz reines, unumstößliches wie pure Information werden wird. Unbegreiflich eigentlich. Man denkt, eine Eins sei eine Eins und eine Null sei eine Null, ja sei ja und nein sei nein, man denkt etwas sei entweder ein- oder ausgeschaltet. Entweder es fließt Strom oder es fließt keiner. Es gibt nur diese zwei Zustände und sie sind unverrüttbar. Dachte auch ich.

Bis der velozipede Drache bei einer Entscheidung zweiten Grades nicht auf die eine, noch die andere Seite fiel.

Das Kleingedruckte Autor und Rechte Jürgen Rinck Ich werde etwa ein Jahr an diesem und weiteren Schreibprojekten arbeiten. In wöchentlichen Abständen schreibe ich in diesem Blog den “Zukunftsroman der Feinen Künste”. Wenn Du mich unterstützen möchtest, folge dem Link zu meinem PaypalMe Account

Angst, dass die Welt zu Grunde geht, bevor ich sie zu Ende berichte.

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Wie mit dem Zukunftsroman der Feinen Künste zu verfahren ist, falls ich ihn nicht selbst perfektionieren kann. Schreibstil feilen. Meine Arbeitsweise ist grob. Immer wenn ich an diesen Texten schreibe, geht es schnell. Die Finger folgen blitzartigen Gedanken. Ich bemühe mich zwar, stringent vorzugehen und so wenig wie möglich abzuschweifen, linear nennt sich das, aber um der Sache willen, übe ich wenig Disziplin, bei einem Gedanken zu bleiben, denn das würde die anderen Gedanken, diejenigen, die sich auf Parallelspuren befinden und auch gedacht werden und in die (imaginären) Finger wollen, nur ausbremsen, abwürgen, unterdrücken. Alles muss raus, so gut es geht. Aufräumen kann ich (oder die Historik der Zukunft später). Zunächst dürfte es demjenigen, der oder die sich dieser Aufgabe annimmt, hilfreich sein, die Blogeinträge in eine geeignete Reihenfolge zu bringen. Sowie nicht veröffentlichtes Material zu sichten. Das Fimidiversum ist nur die Spitze des Eisbergs. Ungereimtheiten schleichen sich in die Geschichte, vermute ich. Weiß ich nicht. Vielleicht, und das wäre der Idealfall, enteht die Geschichte als gereimtes Etwas in den Köpfen der Lesenden. Es ist nicht meine Aufgabe, zu erklären. Ich bin nur der Materialbeschaffer. Ungereimtes reimen erst im nächsten Schritt. Unveröffentlichte Fragmente und Kopien befinden sich im Fimidiverse, auf dem Shiftphone und einer Festplatte namens 695c6e16-724d-4c9b-b78d-d893dfd85c831. Sie liegt im dunkelsten Raum des Hauses. sie enthält weitere Daten.

Ich habe das Gefühl, die Kontrolle über das Buch zu verlieren. Ach was, ich hatte niemals die Kontrolle. Ich irre zwischen Daten und Zeitebenen. Teile der Geschichte finden sich im antiken Irgendlink-Blog. Manches rette ich als Zitat in die aktuellen Datentabellen. Bei Weitem nicht alles.

Als lunatischer Historiker hat man nicht nur die Pflicht, in die Vergangenheit zu schauen, sondern man muss auch die Gegenwart auf dem Schirm haben. Sowie die Bedürfnisse allfälliger Historikerinnen und Historiker der Zukunft. Genau wie die Ahnen ihre Spuren fragmentarisch für uns im Jetzt hinterlassen haben, legen auch wir unsere Spuren für künftige Forschende.

Ich mache mir keine Illusion. Das Forschen an Vergangenem wird für alle Zeit ein Puzzle-Spiel bleiben, bei dem niemals alle Teile gefunden werden. Was ich nun in eine konkrete in sich schlüssige Form zu bringen versuche, wird sich im Lauf der Jahrhunderte zersetzen. Datendefekte bis hin zum Datenverlust divergieren mit der ohnehin illusorischen Idee, man könne einen perfekten Gesamtabdruck des Jetzt hinterlassen. Dagegen spricht alleine schon, dass dies, was ich hier notiere, nur meine Wahrheit ist, dass es neben dieser meiner Wahrheit und meiner Weltsicht noch viele weitere Sichten gibt. Wohl dem, der einen gebündelten Ähnlichkeitsstrom erkennt in den vielen Stimmen ... so gehe ich zumindest vor, wenn ich mich durch die Banalitäten der frühen Bloggosphäre lese. Ich versuche, Stimmungen auszumachen, Ähnlichkeiten und Häufungen.

Die einfachen alltäglichen Berichte in den Blogs der digitalen Frühzeit sind ein nicht zu unterschätzender Schatz. Da mag jemand darüber schreiben, wie er eines Sommers (herrlich muss es damals gewesen sein, warm, blauer Himmel, Sonne) Johannisbeeren pflückt und aufbereitet, ein alltäglicher Arbeitsschritt, und dennoch hinterlässt der Autor eine großartige Information, wie die Menschen damals lebten, zudem garniert mit einer Weisheit.

[...] nachdem ich eine ganze Schüssel Johannisbeeren gepflückt hatte, kämmte ich mir die Ameisen aus dem Haar. Offenbar leben sie in den Sträuchern, anders kann ich mir das nicht erklären, dass sich nach der Ernte immer etliche dieser Tiere auf meinem Körper befinden. Ameisen lieben Johannisbeeren. Genug. Soweit so gut. Was tun mit den vielen Früchten? Gut anderthalb Kilo stehen vor mir auf dem Küchentresen. Unmöglich kann ich die alle jetzt sofort essen. Also muss ich sie vorbereiten, um sie in der Gefriertruhe zu konservieren. Johannisbeeren strippen nennt sich das in unserer Gegend. Kürzlich las ich auf Twitter einen Thread, in dem jemand gefragt hatte, wie man das entfernen der kleinen Beeren von den Stilen in der jeweiligen Gegend nennt. Erstaunlich viele Bezeichnungen gibt es dafür: abpliesern, entstäudeln, abfrutzeln ... Hier bei uns im Südwesten heißt es jedenfalls Strippen, was bei anderen Usern Schmunzeln auslöste. Wie auch immer. Das Strippen der Johannisbeeren ist eigentlich eine einfache, aber zeitaufwändige Aufgabe. Mit der einen Hand hält man den Stil, mit Daumen und Fingern der anderen Hand streift man die etwa fünf bis fünfzehn einzelnen Beeren ab. Und fertig. Problem: Manchmal sind vergammelte oder schrumpelige oder vertrocknete Beeren unter den guten Beeren. Somit kann man nicht in einem Strip alles in die Schüssel mit den guten Beeren strippen, denn dann wären darin ja auch die unreinen. Zunächst hatte ich also bei Mischbeeren, mit vereinzelten unschönen Beeren jede Mühe, die guten abzustreifen, denn ich musste sie meist einzeln um die kaputte Beere strippen. Bis ich auf die Idee kam, das Pferd von hinten aufzuzäumen und zuerst die einzelne kaputte Beere zu entfernen und dann wie gewohnt alle anderen in einem Rutsch abzustreifen. Mag sein, dass diese Technik eine ganz banale Geschichte ist, aber es lehrt mich zweierlei: Erstens gibt es selbst für die einfachsten Tätigkeiten eine Lernkurve und zweitens lauert hinter allem Bekannten ungleich viel mehr Unbekanntes. Warum wir nicht ewig uns weiter entwickeln auf welchem Gebiet auch immer, liegt vermutlich nur daran, dass wir uns irgendwann im Prozess des Welterforschens mit dem zufrieden geben, was wir erreicht haben: Schluss hier, ich habe alles erreicht was ich wollte. Soweit so gut. bezogen auf die heutige Technik und die Probleme, die sich durch die Verschmutzung der Natur ergeben, muss ich sagen, wir sind zu früh stehen geblieben, wir haben aufgehört im Unbekannten zu graben. Wahrscheinlich sind wir sogar auf einem toten Ast gelandet. Was das Johannisbeeren-Strippen als banales Beispiel angeht, ist es wohl nicht zu unterschätzen. Wenn ich weiterhin die guten einzeln von den schlechten getrennt hätte, hätte ich viel länger gebraucht, als nach dem Innovationsschritt des Johannisbeerenstrippens die Schlechten zu extegrieren und die Guten gemeinsam zu strippen. Wirr? Egal. Kernaussage ist: Bleibe niemals stehen, versuche hinter den Vorhang zu schauen, über den Tellerrand. Womöglich wird es dereinst vollautomatische Johannisbeererntemaschinen geben, die einem die kleinen Beeren nach Größe und Farbe und Güte sortieren ... achwas, die gibt es ja auch heute schon, aber selbst diese Technologie ist noch nicht ausentwickelt.

Welch verblüffende Vorwegnahme unserer Zeit. An dieser Stelle möchte ich auf die großen Johannisbeerplantagen im Mare Humorum verweisen. Und darauf, dass wir Johannisbeeren nicht als Nahrungsmittel nutzen, sondern, auch das lag vor vierhundert Jahren noch im Dunkel des Unbekannten, der Saft der Beere ist wichtigster Bestandteil der Solarmodulevergütung, die unsere Station mit Energie versorgen.

Man kann sie auch essen, die Beere. Das war weitgehend unbekannt, bis ich bei meiner Forschung in den frühen Blogs darauf stieß. Vergessenes Wissen. Ich stelle fest, das Unbekannte nähert sich mir sogar von zwei Seiten: in Form von echtem Unbekanntem, das in der Zukunft liegt auf der einen Seite und von Vergessenem oder Verlerntem aus der Vergangenheit. Was die Großmutter noch wusste in lunatisch minimalphilosophischer Sicht einer Instanz, moi même, in einer Existenz ohne Zeit und Körper. Achje.

Das Kleingedruckte Autor und Rechte Jürgen Rinck Ich werde etwa ein Jahr an diesem und weiteren Schreibprojekten arbeiten. In wöchentlichen Abständen schreibe ich in diesem Blog den “Zukunftsroman der Feinen Künste”. Wenn Du mich unterstützen möchtest, folge dem Link zu meinem PaypalMe Account

Wie Lappen lagen die Hochdruckgebiete über der nördlichen Hemisphäre. Es ist lange her. Es gab Wetter und es blieb wochenlang. Ernten fielen aus. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Letztlich verdanke ich meine ersten Lebensjahre in der Dunkelheit der Tunnel den Hitzelappen. Nun, in der Existenz, nur noch Schatten meiner Selbst, zur Tabelle einer kosmodämonischen Datenbank geworden, finde ich es ein bisschen hanebüchen, einen waghalsigen Gedankensprung von den klimatologischen Hitzelappen des frühen digitalen Zeitalters zu wagen bis hin zum, ja, nennen wir es Ausflug, den ich hin und wieder wage. Dann, wenn ich die Grenzen der Tabellen überwinde und mich in, für mich jedenfalls, Neuland begebe. In Welten von vor hunderten Jahren. Hinein in die Abenteuer der Vorangegangenen. Der Ahnen. Ich benehme mich dann nicht anders als einer jener Hitzelappen. Ich bleibe, so lange es mir gefällt. Jemand sagte einmal: Es ist egal, wie oft dein Pfad schon begangen wurde. Wenn du ernsthaften Schrittes voran gehst, wirst du selbst auf den ausgelatschtesten Wegen Neues entdecken, wird sich der Weg mit dir vermählen, werdet ihr Kinder zeugen, du und der Weg, und es wird etwas Neues auf all dem ausgelatschten Alten entstehen. Ich weiß nicht mehr, in welchem Blog ich das las, das in der spärlich ausgestatteten lunatischen Datenbank archiviert ist. Ich bin so dankbar, dieses Reiskorn von Spruch gefunden zu haben. Es scheint mir so wahr. So echt. Ein unvollständiger, vom Gefühl zwar abgekoppelter Versuch, authentisch zu 'leben', es wenigstens zu versuchen. Letztens habe ich eher unpfleglich an diesen Dokumenten gearbeitet, musste viele Texte, die ich noch nicht für 'reif' hielt, zurückhalten, habe sie in den Entwurfsordner gerettet. Ich muss nachdenken, feilen, wie so ein guter alter Schriftstseller aus dem 21. Jahrhundert. Ich, der in einer völlig durchgetakteten Welt lebt, die sowohl räumlich beschränkt ist, als auch zeitlich auf dem Niveau der Gegenwart stehen geblieben ist, wage mich in Sphären, die längst vergangen sind. Manchmal komme ich mir vor wie ein Zeitreisender, wie 'der Doctor'. Es ist geradezu paradox, wie eingeschränkt ich bin, des Körpers und Gefühls beraubt, um jegliche Zukunft geprellt und wie leicht es mir fällt, mich durch die Datenbankbereiche zu bewegen als gäbe es überhaupt keine Grenzen mehr – ich bin so froh, dass mir dieses 'Husarenstück' gelingt. Ich verknüpfe mich nun mit einem antiken Reisebericht zweier längst verstorbener Menschen und werde auf der Erde umher spazieren für ein paar Wochen. Die Dokumente wurden gerettet und sind unter https://flussnoten.de verfügbar. Meine Faszination für die #Flussnoten hat natürlich einen Grund, spielt die Geschichte doch in der Heimat meiner Kindheit, ein zwar düsteres, aber auch von echter Schwerkraft gesegnetes Kapitel meines Lebens. Unsere Familie lebte während der Endzeit im Furka Basistunnel zusammen mit einer halben Million anderer armer Teufel, nun, genau dort führt uns die gut dokumentierte Datenbank hin in eine Erde mit Atmosphäre, Leben, Schmutz, Gewalt, aber auch viel Freude. Und nein, der Bericht führt nicht in den Tunnel, sondern zu den Katarakten eines wilden Baches, der unweit des Tunnelschlunds seinen Lauf nahm. Er hieß Rhône.

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Ich war in Ferien. Einmal mehr. Schallend Schallala singend. In den Bergen war ich. Auf schmalen Pfaden durch märchenhafte Landschaften wanderte ich unter Steilwänden und schrie sie an: 'Schallalaaa' und 'Hallo Echo' und 'Hallo Wehehehellllt'. Welt vor vierhundert Jahren, du wunderbares unvollkommenes, verdorbenes Ding von einem Planeten, du. Ich fühlte nichts. Ich fühle nie, wenn ich auf Reisen gehe. Ich fühle seit meinem Tod nicht mehr. Wie auch. Ich weiß nicht, wie oft ich diese kurze Episode schon durchlebt habe, wie ich mitfieberte auf der Wanderung des Irgendlink-Kollektivs im Jahr 2022. Das erste der zehn Heißen. Ich liebe diese Ferien. Im Archiv der Monddatenbank sind neben viel unnützem, überaltetem Wissen auch einige frühe Weblogs gespeichert, in die man als moderner, körperloser Reisender eintauchen kann. Man kann neben Strickkursen (wozu stricken, wenn es keine Körper gibt, die die Pullover tragen?), Kochtipps (wozu kochen, wenn es keinen Magen gibt, der das Essen verdaut, keine Geschmacksnerven, keine Klos um die gewechselten Stoffe auszuscheiden?) und lustigen Haustierblogs (wozu Haustiere, ist dir nicht mehr Mensch sein nicht genug?) auch eintauchen in einige Reiseblogs und da wird es dann wirklich interessant. An dieser Stelle ein dreifach schallalallendes Hoch auf die Antike Bloggosphäre, die, vorangetrieben durch ganz normale Menschen für ganz normale Menschen ein breites, unkontrolliertes Wissen und letztlich auch ein sehr präzises Bild der damaligen Zeit erhalten hat. Mit Furt bin ich schon mehrfach rund um die Welt velozipediert. Wahlweise tauche ich in den wenigen erhaltenen Dokumenten der Radical Dude Society ein in die Mysterien einer rätselhaften Geheimgesellschaft die von sich selbst sagt, einer der einflussreichsten Think Tanks der damaligen Zeit zu sein. Mehr noch, als Toter, so wie ich, der nur noch eine Tabelle seiner Selbst ist, habe ich die Chance, mich irgendwo im Gewirre der frühen SQL-Datenbanken einzunisten und allerlei aktiven Unfug zu treiben. Aktiv, schreibs in großen Lettern AKTIV mit viel Eins11elf dahinter. So begann es also mit diesen Texten, die du hier liest. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es durch die Zeit ins 21. Jahrhundert finden. Möglich ist es jedenfalls. Vergiss alles, was du über Zeitreisen glaubtest zu wissen. Alles was du an dieser Stelle liest, habe ich in ferner Zukunft verfasst. Oder in der Vergangenheit? Für mich spielt es ja keine Rolle. Kein Körper, kein Gefühl, kein Ort, keine Zeit. Ich bin. Und ich habe einen Weg gefunden, im Fimidiverse neue Tabellen anzulegen. Ich betreibe aktive Geschichtsschreibung (vs. passive Geschichtsschreibung), sagen wir es mal milde, obschon es sich wohl vor dem hohen Rat eher wie Geschichtsfälschung ansehen wird. Darauf steht Löschung. Ich muss das trotzdem tun. Sonst ende ich als Irrer. Die antike Weltenbeschreibung der frühen Reiseblogs aus dem Irgendlink-Cluster haben es mir besonders angetan. Die Berichte, die offenbar direkt während der Reise ins Netz eingebunden wurden faszinieren mich besonders. Auf eine Hand voll Blogadressen verteilt bereisen die Protagonistinnen und Protagonisten den Kontinent Europa. Meist wandernd oder per Veloziped. Ich rede von ein paar tausend rohen, ungefeilten Echtzeitdokumenten die das Leben auf der Straße feiern, das Hohelied vom Vorankommen singen, Zeugnis ablegen von Leid und Mühsal aber auch Freude und Glück. Was die Blogtexte für mich persönlich aber besonders interessant macht ist, dass manche von ihnen meiner einstigen Heimat am allernächsten sind. Welch ein Glückfall, dass eine der Wanderungen fast vor meiner Haustür stattgefunden hatte. In den steilen Bergen die das Rhonetal säumen stand meine Wiege. Unsere Familie hatte ein kleines Anwesen im ehemaligen Furka Basistunnel, direkt unter dem Hungerberg. Wir waren eine jener Endzeitfamilien, die die 'richtige' Erde noch erleben ... durften? Durften ist nicht richtig. Mussten? Konnten? Sollten? Zeugnis ablegen in einer Zukunft der Dekörperisierung ach ich weiß es doch auch nicht. Mein Faible für das alte Genre Blog, das sollte an dieser Stelle klar geworden sein, ist also aus eigenem Interesse geboren und es ist letztlich das, was mich überhaupt antreibt, diese Texte zu verfassen. Ich nutze das frühe Webformat deshalb so gerne, weil es meinem derzeitigen Dasein so schön nahe kommt. Sind wir, in der Existenz Abgespeicherten, nicht alle eine Ansammlung von Tabellen, die miteinander verknüpft sind? Jeder Mitbewohner, jede Mitbewohnerin, die es geschafft haben, ihre Erinnerungen in die Existenz zu retten, ist ein Konglomerat aus Tabellen, das sich mit anderen Tabellen zu einer großen Datenbank mischt und das ausmacht, was wir sind, unser Leben, ach Leben, davon kann keine Rede sein, unsere Existenz eben. Ich fühle nichts, wenn ich mich in die Texte und Landkarten und Bilder des wandernden Irgendlink-Kollektivs begebe. Ich kann nicht fühlen. Nicht mehr. Es gibt nur noch das Vergangene, das sich wieder und wieder wiederholt und das Variationen bereit hält. Dem zu entrinnen ist mein Ziel. Meines und Karlas. Es hat jedoch Zeit, die Flucht zu planen, wobei Zeit das falsche Wort ist, denn Zeit in diesem Sinne gibt es ja nicht mehr. Ich kann also getrost in die 'Ferien' gehen und wer weiß, vielleicht ist das sogar wichtig im Blick auf eine mögliche Zukunft. Die Flussnotenwanderung, an der ich des Öfteren partizipiere, ist mir ein Training für die echte Welt, die es hoffentlich eines Tages wieder für mich und Karla geben wird. Ich tauchte für acht Tage ein in die Flussnotenexpedition des Irgendlink-Kollektivs – einer Hand voll Menschen, die sich bloggend und recherchierend durchs ehemalige Flusstal schwitzten. Es war heiß. Ein Fluss durchströmte das Tal. Ein grünes, kanalisiertes Etwas, das die Kälte der Berge mit nach unten nahm. Gespeist von einem Gletscher. Das waren ewige Eisformationen, die in jedoch der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts abschmolzen und die Dürre einleiteten. Insofern waren sie doch nicht ewig. Ich bin ewig. Momentan. Alles andere, alles was Hand und Fuß hat (ahahaha), was Fleisch, was Körper, Seele und Geist hat, ist verderblich, kann rosten, verwandelt sich am Ende in Staub und Rost und Salz und Wasser. Nuja, vielleicht fühle ich ja doch manchmal. Mitfühlen. Die Expedition, die ich nun schon unzählige Male nacherlebte, scheiterte krachend nur wenige Kilometer jenseits des östlichen Eingangs des Furka-Basistunnels. Das macht etwas mit einem, wenn man mitlesen darf, wie ein Lebensträumchen platzt oder auch zwei oder drei. Es ist ein kitzeliges – ich will es nicht Gefühl nennen – Erinnerungsstück an längst vergangene körperhafte Tage. Immer wenn ich die Flussnoten durchlebe, tauche ich in Sphären ein, in denen meine Protagnistin und mein Protagonist 'etwas unbedingt wollten und nicht bekamen'. Ein Ziel zu erreichen, es sich vorzustellen, sich eine Karte malen, den Weg dahin bis auf Meter genau zu kartografieren und dann wegen welch auch immerer Äußerlichkeiten nicht hin zu gelangen. Gibt es etwas Spannenderes? Ach Äußerlichkeiten! Was gäbe ich um Äußerlichkeiten! Echte Temperaturen. Echte sengende Sonne. Echter Staub, echte UV-Indexe, Sonnenbrillen, wunde Zehen, Zehen überhaupt. Einen Körper, einen fünfzehn Kilo schweren Rucksack, immerhin etwa vier Kilo auf dem Mond ... danke, Kollektiv, dass ich mitwandern durfte, mitwandern darf, immer und immer wieder. Die Ferien sind vorbei mal wieder. Ich sah den Eingang zum Furkatunnel als grüne, von Dunstwolken verhangene Szene. So wie ich ihn zu Lebzeiten niemals zu Gesicht bekommen hatte. Ich wandelte auf schmalen Pfaden entlang murmelnder Bewässerungskanäle. Ich sah die Welt wie ich sie zu Lebzeiten nie gesehen hatte. Vierhundert Jahre liegen zwischen den 'Zehn Heißen' und meiner Geburt. Und eine nicht benennbare Zeitspanne ist seit meinem Tod vergangen. Als ich geboren wurde, gab es weder den Fluss, noch Gletscher, noch Wolken. Die Erde sah so aus, wie es das Kollektiv in den Flussnoten an einer Stelle gegen Ende der Wanderung beschrieb: > “Wenn die Welt zweidimensional wäre oder ein Gemälde. Ein Endzeitgemälde. Gelber Himmel, wuchtige Quellwolken. Nur der Westwind lindert die Glut. Dunst liegt über dem Tal. Eine schwer zu beschreibende Athmosphäre. Hinter der vergilbten Luft ist jedenfalls auch Blau zu vermuten. Ein helles, milchiges Blau.” Herrlich. Was gäbe ich um ein Blau hinter einem Gelb, Dunst und Staub und eine auf der Spitze stehende athmosphärische Pyramide. Im Grunde kannst du, der du dies liest dir diese meine Ferien wohl am ehesten wie Träumen vorstellen. Tagträumen. Ein Kratzen an der granitenen Oberfläche des Fühlens. Harte Nuss, ich weiß. Ich weiß nicht wie lange ich weg war. Ob acht Erden Tage – wie das Flussnoten-Kollektiv auf Wanderschaft – oder länger oder nur wenige Sekunden. Manchmal bilden sich Schleifen, lebt man länger in diesen Ferienträumen als einem lieb ist, wiederholt sich der Tag, springt die Zeitspur, baumelt man nicht gezählte Minuten in seiner geistigen Hängematte. Ich glaube, man nennt es Sein. Aber im negativen Sinne. Ich erwache. Die Reise ist noch gar nicht zu Ende, aber etwas reißt mich aus der Tabelle. Ein Plätschern. Kälte. Nässe. Gestank. So muss es sich angefühlt haben, als Mensch aus Fleisch und Blut aus einem Traum zu erwachen, unruhig hin und her wälzend, verschwitzt. Im weichen Bett rutscht die Hand unter der Bettdecke hervor, berührt den Boden, spürst du die Kälte, die Nässe und im ersten Lidschlag steht ein Wuffzie vor dir und tut das einzige was er als mechanisches Wesen tun kann: Er pisst. Per SQL-Abfrage weise ich Augenreiben an, Gähnen, sich recken und auch einen guten Schuss Alp weise ich an. Versuche die Realität, aus einem Alptraum zu erwachen rein erinnerungstechnisch, so getreu wie möglich nachzubilden. Ich liebe Alptraumsimulationen. Sie bringen so etwas 'Echtes' in die Eintönigkeit der Existenz, finde ich. Und man kann die Erinnerung an Zeit, verrinnende Zeit so gut spüren. Ich weiß, dass das Selbstlüge ist, aber es funktioniert. Gleich wird der Wuffzie wieder verschwinden, ich werde die Hand heben, sie betrachten, werde mir selbst Verwunderung vorgaukeln und dann ist die Existenz wieder voll präsent. Gleich. Jetzt. Nun. Sofort ... nochmal: JETZT! Also eigentlich? Ich simuliere Recken und Augenreiben. Wie lange schon? Stunden? Tage? Monate? Wieviel Zeit wohl vergangen wäre, wenn es Zeit gäbe? Der Wuffzie bleibt und pisst. Der ist echt, ich sehe das doch. Aber das kann doch nicht sein. Was zur Hölle?! Ein Alptraum nimmt seinen Lauf. Das begrüße ich.

Das Kleingedruckte Autor und Rechte Jürgen Rinck Ich werde etwa ein Jahr an diesem und weiteren Schreibprojekten arbeiten. In wöchentlichen Abständen schreibe ich in diesem Blog den “Zukunftsroman der Feinen Künste”. Wenn Du mich unterstützen möchtest, folge dem Link zu meinem PaypalMe Account