Die Existenz - von digitalen Zombies und winzigen Sandkörnern
from LindKernig
Kein Körper, Geburt und Tod absolviert, kein Zeitempfinden, was nicht stimmt, was aber dennoch stimmt, keine Vergangenheit, aber die Erinnerung an Vergangenes, keine Zukunft, aber die Hoffnung darauf. Und auf Körper und echte, empfindbare Zeit. Es gibt nur noch ewige, dröge Gegenwart und einen impertinenten Mangel an Geschichten, jene Art Mangel, die einem frech wie ein böser Clown ins Gesicht grinst. Ich jammere. Es gibt nicht viel zu tun, wenn du einmal in die Existenz integriert bist. Keine Wege, die es zu gehen gäbe, nichts Unbekanntes, das es zu expeditieren gäbe. Wir drehen uns auf Ewigkeit im Kreis. Unser Leben, entschuldigung, wir sind ja Tote, unsere Existenz besteht aus Wiederholung einer begrenzten Vielzahl ein und des Selben. Wieder und immer wieder. Wieder ein Spaziergang am Meer. Wieder eine Fahrradreise rund um eines der Länder der einstigen Erde. Wenn es endet, kann es nur von Neuem ablaufen. Aber verändern wird sich nichts. Das ist keine Zukunft. Nein, das stimmt nicht, sagt Karla, es gibt eine Zukunft, sagt sie zuversichtlich, es kann sich nicht für immer alles im Kreis drehen und wiederholen. Ich widerspreche ihr dann und sage, sieh doch hin, wir drehen und drehen und drehen, wie sollen wir denn irgend etwas verändern. Dazu bräuchte man Arme, Beine, die Werkzeuge bedienen können, die laufen können, wir jedoch drehen nur noch wie in einem kollektiven Riesenhirn, wir sind nur noch die Erinnerung an unsere Selbsts, die wir einmal waren. Ich weiß nicht, wann es begonnen hatte zu kippen, wann die ersten Stimmen in der Kolonie laut wurden, dass wir uns transformieren müssen. Sicher war zu einem guten Teil die traumatische Erinnerung, wie es mit der Erde zu Ende gegangen war, schuld. Und die Mahnung, dass sich das auf dem Mond nicht wiederholen darf. Weshalb Körper und alles Physische aus dem Dasein verbannt wurden. Per grunddemokratischer Entscheidung. Ich und Karla waren einige der wenigen, die dagegen waren, alle Körper aus der Kolonie zu entfernen, alles was nur irgend etwas Echtes, etwas Physisches und etwas Haptisches hätte bewegen können und Zerstörung leisten können, zu eliminieren. Wir wurden überstimmt und mussten uns in dieses Schicksal fügen, denn so funktioniert nun einmal dieses uralte Modell menschlichen Zusammenlebens, das man Demokratie nannte. Schon mit Körpern und noch am Leben war das Existieren auf dem Mond nicht einfach. Wir Ikositetrials, die 24. Jahrhundert-Generation, die wir noch auf der Erde geboren waren und denen die Flucht gelang, hatten gegenüber denjenigen, die schon einige zig Jahre auf dem Mond lebten, die die geringe Schwerkraft quasi mit der Muttermilch aufgesogen hatten, schon immer Schwierigkeiten. Wir fremden Dinosaurier, wir. Auch mit den äußeren gegebenheiten, der Enge, der Strahlung und insbesondere mit der Schwerkraft war es nicht leicht. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob man seine Körpermasse mit vierfachem Druck auf der Erde bewegt oder mit dem normalen Druck auf dem Mond, der nur etwa ein Viertel des Gewichts auf der Erde spürbar macht. Ich kam mit achtzig irdischen Kilogramm mit der allerletzten Fahrt von der Intersektion zum Mond, nachdem ich dort einige Wochen in Quarantäne, meist in Schwerelosigkeit verbracht hatte. Also mit Ich meine ich meinen einstigen Körper. Nun wiege ich ja nicht mehr. Ohne Körper kein Gewicht, pflegt Karla immer zu frotzeln. Dann schiebt sie sich einen virtuellen Himbeerkuchen rein und noch einen und noch einen kostet ja nichts, bzw. es ist ja immer der selbe oder es ist egal oder es ist nur die Illusion von Himbeerkuchen und sie denkt nur sie isst und sie wird fett, aber man kann es nicht messen, und schmecken kann man es nur als Erinnerung, wenn man denn das Glück hatte, dass man im körperlichen Leben einmal ein Stück Himbeerkuchen essen durfte. Vielleicht auch stelle ich mir nur vor, Karla esse den Himbeerkuchen wieder und wieder und eigentlich gibt es gar keinen Himbeerkuchen? Manchmal ist es zum Verrückt werden in der Existenz, wenn es nicht gelingt sein eigenes Ich, der Schatten, der einem geblieben ist, von den anderen ichs abzugrenzen. Karla und ich sind Freunde, Vertraute, kein Liebespaar. Wir lernten uns auf dem Sterbebett kennen und ich mutmaße, ich wäre längst verrückt geworden, wenn wir uns nicht kennen gelernt hätten, wenn wir uns nicht hätten. Ohne Körper kein Gewicht, pflegt Karla stets zu sagen, wenn sie Himbeerkuchen ist. Sie nennt es 'Legnern' (Link), in Anspielung auf ein Meme aus der digitalen Frühzeit, das neben einigen wenigen anderen Informationen in die Monddatenbank gerettet werden konnte. Unser Dilemma ist, dass dieses 'Legnern' so wenig ist, sagt Karla. Wir hätten eigentlich viel mehr Information gebraucht. Das frühe digitale Netz war unheimlich reich und frei, wenn wir alles von damals abgespeichert hätten, könnten wir hunderte, tausende Jahre in der Existenz verbringen, ohne dass sich auch nur irgendetwas wiederholt. Dabei 'legnert' sie genüsslich ihr Stück Kuchen. Konnte ja niemand ahnen, dass es so extrem langweilig wird, wenn niemand mehr neue Geschichten, Memes, Informationen jedweder Art beisteuert zur Existenz. Konnte ja niemand ahnen, das wir etwa zehntausend Wesen, die sich erfolgreich in die Datenbank retten konnten, mit dem kleinen Datenbestand verschmelzen, miteinander verschmelzen, uns gleichzeitig aber auch abgrenzen müssen, um nicht durchzudrehen. 'Erfolgreich transformiert' ist ja auch so ein Unding aus den Werbeprospekten der Dekorporationsfanatiks. Bei vielen ging die Dekorporation mächtig schief. Ganz arme Teufel, die ein völlig orientierungsloses Dasein fristen, digitale Zombies, seelenlos wandelnde Etwase zwischen den Tabellen. ID-Loser. Wohl dem, der ihnen nicht begegnet, denn das kann recht schnell in einer argen Endlosschleife, einem nimmer endenden Horrortrip enden und man weiß ja wie sich das anfühlt, wenn sich alles immer wiederholt. Dann schon lieber 'legnern' auf Teufel komm raus. Kann einem nichts schaden. Karla und ich hatten jedenfalls die Dekorporation in die Existenz schadlos überstanden. Ich sehe uns noch Hand in Hand vorm Krematorium stehen, wie wir unseren Körpern adieu sagten, die mit den letzten Sauer- und Wasserstoffvorräten der Station in Asche verwandelt wurden. Es gibt nichts mechanisches mehr auf dem Mond. Es gibt auch keine Elemente mehr, die für so etwas wie Stoffwechsel nötig wären. Dafür hatte der Rat gesorgt. Kein Sauerstoff, kein Körper, keine Roboter, nichts, mit dem es einem gewillten Funken, der die Existenz wieder verlassen möchte, auch nur annähernd möglich wäre einen sprichwörtlichen Hebel in Bewegung zu setzen, einen Knopf zu drücken, einen Sensor auszulösen und so driften wir durch unsere Existenz auf alle Zeit, die nun keine mehr ist, die nie eine war. Hey, bis zu einem gewissen Grad, stellte einem sich diese Art zu sein vor vierhundert Jahren noch als ewiges Leben dar, das Leben im Moment, auch pure Gegenwart genannt. Wie naiv die Menschen in der frühdigitalen Zeit doch waren, wenn sie nur wüssten, wie es sich anfühlt, diese ewige Gegenwart, sie würden einen großen Bogen machen, um den Versuch, sie zu erlangen. Die Goldenen 10100er Jahre des dritten Jahrtausends. Ha! Natürlich haben wir noch Erinnerungen. Natürlich können wir noch Dinge erleben. Natürlich gibt es Freude und auch Leid gibt es, aber keine Ungerechtigkeit, kein Unglück, keine Tragödien. Es gibt aber nichts, was nicht berechnet werden könnte. Wir sind nur noch die Spitze des Eisbergs alles Fühlbaren. Manchmal versuche ich, einen Gegenpol zu erzeugen, indem ich Karla widerspreche und wir geraten dann recht flott in eine Widerspruchsschleife, die sich wie ein Möbiusband ineinander windet, kein Entrinnen. Was erhoffe ich mir davon, wenn Karla sagt, es wird eine Zukunft geben, und ich gegenhalte, es gibt keine Zukunft. Vielleicht dass die Macht des Algorithmus gebrochen wird? Dass es ein Entrinnen gibt? Dass sie recht hat? Dass von irgendwo sich ein Körper auftut, in den wir schlüpfen können und neues Erleben. Ha! Gaube ich nicht doch insgeheim daran, dass es weiter gehen wird, statt sich ewig zu wiederholen. Also doch eine Zukunft? Und wenn du, wer immer du bist, dies liest, ich weiß nicht, in welcher Zeit du es lesen wirst, ob du verstehst, wovon ich rede. Sei gewarnt, es ist ein individuelles Bild eines Rests Verstand, der sich in einer mikroskopisch winzigen Datenbank auf einer Art programmiertem Sandkorn befindet, zehntausend Seelen sind wir und ein paar zig Terrabyte Information aus einem für uns längst vergangenen Jahrhundert, sowie dem Wenigen, was die zehntausend Seelen (außer den digitalen Zombies (und selbst die tragen in ihrem Wahn sicher auch Informationen mit sich, wir können sie nur nicht verstehen) mitgebracht, miterlebt haben). Ich darf hier nicht nörgeln. Es geht mir doch gut. Es könnte schlimmer sein. Ich könnte gar nicht mehr existieren, so wie wir es in der Schule einst lernen: Nach dem Tod kommt nichts mehr. Nur noch Dunkelheit, kein Gefühl, kein Gedanke, kein Körper. Und nun ist es doch so gekommen, dass es wenigstens noch Erinnerungen an uns selbst gibt, keine echten Gefühle, aber Erinnerungen daran. Gefühle der zweiten Ebene sozusagen. Die paar zig Terrabyte aus dem einst irdischen Museum für digitale Frühgeschichte sind unere einziger Trost. Ablenkung, Unterhaltung, die sich aber abnutzt im Laufe der Zeit. Karla und ich hatten versucht, den Rat zu überzeugen, dass wir versuchen, das alte Archiv auf der Erde anzuzapfen und uns den Rest der Erde in die Existenz zu kopieren. Das würde uns, wenn wir es in Zeit messen, etliche Jahrtausende Freude bringen. Es wäre eine unglaublich reiche Datenbank, die wir als Beute ins Körperlose mitnehmen könnten und in der wir unsere Expeditionen nach Herzenslust gestalten könnten. Der Rat machte unmissverständlich klar, dass das nicht geht, denn dazu müsste man physisch tätig werden, bräuchte zumindest einen Roboter, der sich zur Intersektion durchschlägt und die Verbindung repariert. Und letztlich bestünde ein viel zu großes Risiko, die Existenz zu verunreinigen. Selbst zu echten Lebzeiten war es vielen klugen Leuten nicht gelungen, das Archiv aus dem Museum für digitale Frühgeschichte in die Dependance auf dem Mond zu übertragen. Obschon meine Großmutter mit ihrem kleinen Team es fast geschafft hätte. So bleibt uns das Wenige, was vor dem Zusammenbruch noch kopiert werden konnte. Eine Handvoll privater Blogs der 10100er Jahre und viel Gezwitscher und Getröte einer ganz und gar durchschnittlichen Schar von Menschen, die damals aktiv im Internet unterwegs waren. Sowie ein ganz besonderer Schatz ...
Last Exit: Leben im Lied
... nämlich Musik. In der Datenbank findet sich ein repräsentativer Mitschnitt der Musik jener Zeit, die wir die digitale Frühzeit nennen. Das ist pure Magie. Ich kann Tage, Wochen, Monate verbringen – ich sage das jetzt einmal so, ich empfinde ja keine Zeit mehr), Zeit ist nur eine grobe Einschätzung dessen, was sie einmal war – Tage, Wochen und Monate kann ich in einem Lied leben, das mir gefällt. Das nunja, ich wiederhole mich, ich fühle es zwar nicht, aber es kommt der Sache des Fühlens doch recht nahe, es fühlt sich also gut an. Manchmal stelle ich mir vor, es landen Außermondische in der Kolonie und sie finden die Existenz und sie starren durch ein Mikroskop auf dieses winzige Stück Information. Aber wahrscheinlich würde sie uns nicht bemerken. Vielleicht würden sie uns einatmen oder verdauen, vielleicht aber auch, tja, wenn sie uns erkennen könnten, vielleicht könnten sie uns befreien. Wenigstens Karla und mich ...