Ich würde Ihnen gerne von meiner Großmutter erzählen. In der einzigen Therapiestunde meines Lebens, von der ich den Eindruck hatte, das sie etwas gebracht hat, war das ein guter Einstieg um zu erklären, was mein Problem ist. Bedauerlicherweise kam die Therapeutin in der nächsten Stunde nicht wieder, auch in der übernächsten nicht, und dann gar nicht mehr, weil sie spontan wo anders ihre eigene Praxis aufgemacht hat. M*** R, geborene S, zwischendurch hieß sie auch mal M*** und hatte noch zwei andere Namen von ihren Ehemännern übernommen, die ich mir nicht merken kann. Ihr leben war ziemlich abgefuckt. Ihr Vater war nach der Deutschen Invasion nach Polen geschickt worden, hat dort mehr Juden ermordet als er zählen konnte, war danach ein paar Jahre in Russischer Kriegsgefangenschaft bis er freigelassen wurde und hat anschließend bis zur Rente weiter in Deutschland als Polizist gearbeitet. Über den Krieg sprach er kaum, alle wussten Bescheid, wenn jemand darüber gesprochen hätte, was er im Krieg gemacht hat, wäre er vermutlich vor dem Kriegsgericht gelandet, was Frau und Tochter in Armut gestürzt hätte, deshalb schwiegen sie. Ihre Mutter war psychisch krank, schwer zu sagen was das in den Begriffen moderner Psychiatrischer Terminologie genau bedeutet, aber die Diagnose Schizophrenie wurde mir weiter getragen. Sie starb kurz vor meiner Geburt. Es folgten eine Reihe traumatischer Geschichten, die in mir großen Respekt vor ihr erzeugen, aber an dem Thema, auf das ich hier hinaus will, vorbei gehen. Kurz vor der Rente verliebte sie sich in den Mann ihres Lebens: U*** R. Der war auch Lehrer, auch fast in Rente, die beiden heirateten und Wohnten zusammen in einem Haus mit Meerblick. Happy End. Dann hatte er einen Schlaganfall. Danach konnte er gar nichts mehr. M behauptete, sie habe noch mit ihm kommunizieren können, über seine Augen, er habe geblinzelt, aber alle außer ihr waren der Überzeugung, das er nur noch Matsch in einem Körper war, der künstlich am Leben erhalten wurde. So habe auch ich ihn kennen gelernt: Als einen regungslosen alten Mann, der an seltsame Geräte angeschlossen war. Irgendwann starb er. Davon hat sie mir einige Jahre später erzählt, als sie schon im Bett lag. Sie hat ihn in seinem Rollstuhl raus geschoben, auf die Terrasse, in die Sonne, an den Platz, wo er früher so gerne gelesen hat, früh am Morgen an einem schönen Sommertag, ihn im Arm gehalten, ihm gut zugeredet und ihm Insulin verabreicht. Das hatte der Arzt empfohlen, weil es sich nicht nachweisen lässt. Sie behauptet er habe ihr kommuniziert er wollte sterben, mein Vater behauptet er war nicht mehr in der Lage zu kommunizieren. Schwer zu sagen was davon stimmte. Sie wurde nie angeklagt. Trotzdem war sie danach noch recht lebensfroh. Sie hatte das Haus geerbt, war in Rente, sozial gut eingebunden, der Bridgeclub war ihr Leben. Dann bekam sie Parkinson. Sie verbrachte viel Zeit in einem Parkinson Forum, und hatte offenbar auch einige Affären mit anderen Rentnern, die im Internet aktiv waren bevor die Jugend es für sich entdeckte. Dann bekam sie Krebs. Ich dachte es wäre Gebärmutterhalskrebs, in späteren Gesprächen mit meinem Vater sagte er Eierstockkrebs, war sich aber auch nicht sicher. So oder so, der ganze Bums musste raus. Aber es war zu spät, der Krebs hatte schon gestreut. Trotz Chemotherapie war ihre Prognose maximal noch 5 Jahre. Nun, sie hat danach noch 5 ½ Jahre raus geholt. Ich hatte kein besonders inniges Verhältnis zu ihr. Am Ende noch etwas mehr, als ich ein Erwachsener war und wir echte Gespräche führen konnten, aber wirklich Nahe gekommen bin ich ihr erst nach ihrem Tod, als ich ihre Tagebücher gelesen habe. In meiner Kindheit bin ich mit meinem Vater zu Ostern für ein paar Tage zu ihr gefahren, manchmal auch noch mal in den Herbstferien. Dann brach mein Kontakt zu meinem Vater ab und ich besuchte sie ein paar mal alleine. Sie baute krass ab. Eine Weile bestand ihr Leben daraus morgens vom Pflegedienst aus dem Bett in den Sessel gebracht zu werden, dort fernzusehen, zu telefonierten, Gameboy zu spielen und Besuch zu empfangen, abends zurück ins Bett. Ein einziges mal waren wir mit ihr im Rollstuhl am Strand, aber das fand sie glaube ich nicht so gut, es war ihr zu anstrengend und das Meer konnte sie auch von ihrem Bett aus sehen. Irgendwann schaffte sie es nicht mehr bis ins Wohnzimmer. Ich glaube das war etwa drei Jahre vor ihrem Tod, vielleicht etwas länger. So lange lag sie im Bett, unfähig alleine irgendetwas zu tun, und wollte sterben. Was sie sehr klar artikuliert hat. Sie wollte auch nicht in ein Pflegeheim oder ein Hospiz oder an irgendeinen anderen Ort, als dieses Haus mit Meerblick, das sie an ihre große Liebe erinnerte. Aber eine Privatversicherte, die sich nicht wehren kann und sterben will – ihr gesamtes Umfeld hatte starke finanzielle Anreize sie gegen ihren Willen am leben zu halten. Niemand hat ihr geholfen. Sie hatte chronische Schmerzen, hat die meiste Zeit im Halbschlaf verbracht, der Fernseher lief ununterbrochen, und sie hat immer wieder um Hilfe beim sterben gebeten. Gegner der Sterbehilfe führen oft an, das eine Legalisierung der Sterbehilfe einen Druck auf alte Leute erzeugen würde, sich umzubringen um ihren Kindern nicht zur last zu fallen. Das Gegenteil ist hier der Fall. Diese Frau wurde bis zu ihrem Ende ausgenommen, am Leben gehalten solange noch Geld aus ihr raus floss. Sie hat ihr Morphium nicht genommen, sondern gesammelt, die Tabletten unter ihrem Kopfkissen versteckt, aber der Pflegedienst hat es ihr immer wieder abgenommen. Und trotz Krebs, Parkinson, Übergewicht bei dem man sich Fragen konnte ob das Gewicht nicht alleine gereicht haben müsste damit sie in sich zusammen fällt und dem klaren Wunsch zu sterben, starb sie einfach nicht. Irgendwann habe ich aufgehört sie zu besuchen. Ich konnte das einfach nicht mit ansehen. Die Therapeutin, Frau S***, der ich das erzählte, wies darauf hin, dass es schon ein erstaunlicher Zufall war, das ich meine erste richtig krasse depressive Episode genau in dieser Zeit hatte – als ich mit ansehen musste wie meine Oma verzweifelt darum bettelte sterben zu dürfen und niemand ihr half. Ich versuchte darüber zu reden, mit meinen Eltern, aber die weigerten sich dieses Gespräch zu führen. Am Ende weigerte sie sich zu trinken. Mehrere Tage lang. Sterbefasten. Sie ist verdurstet. Der Arzt hat einen natürlichen Tod festgestellt, aber so etwas gibt es nicht. Kein Tod ist natürlich, es ist eine recht neue Entwicklung in der Menschheitsgeschichte, das wir so alt werden können, das sich diese Frage überhaupt stellt. Ich halte den Begriff „Altersschwäche“ für Christliche Propaganda. Meine Oma hat sich umgebracht, und zwar auf die grausamste Weise, die ich mir vorstellen kann. Und ich habe Angst. Nicht aushaltbare Angst. Ich habe Angst vor Ihnen. Vor meiner Familie, vor allen Menschen in diesem Land, weil ich weiß: Wenn ich in so eine Situation komme, werden sie mir nicht Helfen. Sie würden mich melken, so lange wie es irgendwie möglich ist Geld aus mir herauszupressen würden sie mich am Leben halten, sie würden mir den schmerzlosen Tod verwehren. Und ich werde das nicht zulassen. Auf keinen Fall. Ich würde ohne zu zögern alle Menschen die ich kenne Töten um dieser Situation zu entgehen. Diese Angst ist so intensiv, sie ist das stärkste Gefühl, das ich in meinem Leben verspürt habe. Sonst kann ich gut mit Ängsten umgehen, ich kann sie in Wahrscheinlichkeiten kleiden, sie mit Statistiken weg abstrahieren und in durch Risikoanalysen und Sicherheitsmaßnamen erträglich machen, bis die Sicherheitsmaßnamen zur Selbstverständlichkeit werden und ich die ihnen zugrundeliegende Angst vergesse. Das ich immer noch eine FFP2 Maske trage, obwohl alle anderen damit aufgehört haben, liegt nicht daran, das ich Angst habe – sondern daran, das die Angst dadurch verschwindet. Aber diese Angst, die Großmutter aller Ängste, bekomme ich nicht weg. Weil sie berechtigt ist. Und weil die offensichtliche, naheliegende, einfache Lösung mit dieser Angst umzugehen in Deutschland mit einer Haftstrafe von 6 Monaten bis 5 Jahren bestraft wird. Liebe führt zu Angst, Angst führt zu Hass, und Hass ist der Pfad zur Dunklen Seite der Macht. Und auf diesem Pfad bin ich. Das Wort Depression ist ein sehr abstrakter Begriff, ich habe noch keine zwei Ärzte getroffen die sich auf eine Definition einigen konnten, und es gibt diese unterschiedlichen Medizinischen Klassifikationen, die versuchen den Begriff greifbar zu machen, oder zumindest in etwas zu verwandeln, das man bei der Krankenkasse abrechnen kann, aber es ist keine Krankheit. Es ist eine natürliche, gesunde Reaktion auf ausweglose Lebensumstände. In den Entlassbriefen über mich steht „der Patient habe eine gute Krankheitseinsicht“, aber nein, das habe ich eigentlich nicht. Ich bin mir absolut sicher, dass Ursache und Lösung für meine Depression darin bestehen einen Weg zu finden um sicheren, selbstbestimmt und schmerzfrei sterben zu können. Das ist die notwendige Bedingung, dafür das es mir besser gehen kann. Daran lässt sich weder durch Medikamente, Therapien, Sport, finanzielle Sicherheit oder pseudomedizinischen Hokuspokus etwas ändern. Ich weiß, dass das für neurotypische Menschen schwer zu verstehen ist, weil sie Dinge einfach so vergessen können, oder verdrängen, oder sich mit Drogen, Verzeihung, mit Medikamenten, davon ablenken, aber ich kann das nicht. Ich bin nicht dazu in der Lage Dinge einfach zu vergessen, zu verdrängen, oder mich davon abzulenken. Ich habe ein starkes Bedürfnis nach Kognitiver Abgeschlossenheit. Ich habe es versucht. Im Gegenteil, die Versuche mich um diesen Elefanten im Raum herum zu schleichen, haben es schlimmer gemacht. Mein erster Aufenthalt hier hat ohne den geringsten Zweifel mehr Schaden angerichtet als geholfen. „Der Patient wird mit gebesserter Symptomatik entlassen“ ist eine ziemlich dreiste Lüge. Meine Suizidversuche sind nicht rational. Ich habe keinen Einfluss darauf, auch wenn Sie darauf bestehen zu behaupten ich hätte das. Habe ich nicht. Manchmal schon, wenn ich es für eine Weile schaffe diese Angst zu verdrängen, aber danach kommt sie nur immer wieder stärker zurück. Sie nimmt mich ein, überwältigt mich, schaltet die Kontrolle über mich selbst aus und plötzlich stehe ich auf eine Brücke, mit einer Schlinge um den Hals und die selbe Angst, die mich dort hin getrieben hat, hält mich davon ab zu springen – denn was, wenn es nicht klappt? Was wenn ich überlebe, querschnittsgelähmt bin, unfähig es noch mal zu versuchen? Sie würden mir nicht helfen. Niemand in diesem Land würde mir helfen. Und das ist das schlimmste, was ich mir vorstellen kann. So schlimm, das alle anderen Ethischen Implikationen dagegen verblassen. Was ist schon ein Mord, im Vergleich dazu jemanden mit Gewalt ans Leben zu fesseln? Meinem Empfinden nach eine Bagatelle. Vernachlässigbar. Meine Depression ist kein medizinisches Problem, sondern ein Politisches. Der Versuch es medizinisch zu behandeln, macht es schlimmer. Macht mich zu einer Gefahr für mich selbst und meine Umwelt. Ich bin nicht hier, weil ich glaube, das sie mir helfen können, sondern weil ich nicht weiß, wohin ich sonst soll. Dabei ist die Lösung offensichtlich, naheliegend, aus chemischer Sicht banal einfach zu synthetisieren und billig. Alles was ich brauche ist Sicherheit. Die Frage ist nicht, ob ich mich umbringe. Die Frage ist, wann, wie, und ob ich es schaffe vorher an 15 Gram Pentobarbital zu kommen ohne jemanden dafür töten zu müssen. Was ich ohne schlechtes Gewissen oder Zögern auf der Stelle tun würde. Denn alle anderen Gefühle, alles, was meine Persönlichkeit ausmacht, verblasst hinter dieser Angst. Sie überschattet alles und nimmt mich vollkommen ein. Ich kann ihr nicht entkommen. Es gibt keinen anderen Weg.