Unterwegsgeschichten X
Kapitel zehn
Sie war, wie sie schon immer gewesen war. Immer schon hatte es wehgetan, dieses Sie-selbst-Sein. Sie hatte schon als Kind gewusst hatte, dass es dahinter mehr gab, mehr Wissen, mehr Dinge, als es auf den ersten Blick schien. Welten, die sie nie erreichen würde. Erkenntnisse, die sie nie verstehen würde. Dinge, die zu groß für sie waren.
Der Konjunktiv mit seinen Versprechungen war Freundin und Feindin zugleich. Ihre Feind:innen und Freund:innen lebten mit ihr unter einer Haut. Fühlen zu können war eine. Nicht wegsehen zu können eine andere. Freundin und Feindin. Sie selbst war es, die mal Geh weg! und mal Komm her! sagte. Und sie selbst war es auch, die nicht wusste, wie und warum es so war und dennoch versuchte, das, was sie spürte, zu sagen. Mal Geh!, mal Komm!.
Und sie wusste, dass das schwierig war für ihre Mitmenschen. Authentisch zu sein, war schwerer zu ertragen als nett zu sein – für sie selbst ebenso wie für die anderen. Doch sie wusste auch, dass Wirkliches nachwirkte, etwas bewirkte.
Fiktion tut weniger weh, denkt sie oft, wenn sie sich für einen Spielfilm statt für eine Doku entscheidet, für einen Roman statt für eine Biografie. Fiktion, da kannst du immer sagen: Es ist ja nur eine Geschichte.
Doch ist eine Geschichte darum weniger wahr, weil sie nicht exakt so passiert, genau so von einem andern Menschen erlebt worden ist? Trügt denn nicht auch eine Biografie, trügt nicht die Erinnerung, lüge ich mehr, lüge ich weniger, wenn ich Geh! sage statt Komm!, wenn ich Komm! nicht fühlen kann? Wenn ich nur so tue als wäre Komm! genau das, was ich will?